Sprache prägt unser gesamtes Leben. Es ist ein, vielleicht sogar der wichtigste Schlüssel für die Interaktion mit anderen Menschen, auch mit unseren Kindern. Selbst in unserem Denken greifen wir überwiegend auf Wörter, auf unsere Sprache zurück. Um wertschätzend miteinander umzugehen, sollte man also auch achtsam miteinander kommunizieren. Denn es ist nicht selbstverständlich, dass das Gegenüber immer versteht, was man sagt.
Typische Szene auf einem Spielplatz mit Rutsche, Schaukel und was es da sonst noch so gibt: Die knapp zweijährige Lene, die gerade noch konzentriert Sand in einen Eimer geschaufelt hat, läuft zielstrebig in Richtung Schaukel, auf der ihr großer Bruder Tobi wild vor und zurück schwingt. „NEIN!“ Die Mutter stürzt hinterher. „Nicht zur Schaukel, Tobi kann nicht stehen bleiben!“ Gerade noch vor dem unausweichlichen Crash erwischt sie Lene, die keine Anzeichen zeigt zu reagieren. Doch warum hat Lene nicht reagiert? Vielleicht hat sie es einfach nicht gehört, war zu fixiert auf etwas anderes. Das ist bei Kindern in diesem Alter ganz typisch, sie sind bei dem, was sie gerade tun, hochkonzentriert. Aber vielleicht wollte sie auch gar nicht zur Schaukel, hat also den Ausruf gar nicht auf sich bezogen. Wer weiß, die Rutsche direkt hinter der Schaukel wollte in diesem Moment von Lene unbedingt genau untersucht werden. Oder lag es etwa an der Art bzw. der Aufforderung selbst?
Kinder und Sprache
Kinder müssen Sprache, die für uns Erwachsene so selbstverständlich ist, erlernen. Da sind einzelne Klänge, Wörter, die den Dingen, den Empfindungen die der kleine Mensch neu entdeckt, zugeordnet werden müssen. Fiona Lewald, Sprachwissenschaftlerin und Betreiberin des Blogs „Unverbogen Kind sein“, ist überzeugt: „Viele Eltern vergessen, beim Sprechen auf ihre Kinder zu achten, hinzuschauen und sich in ihre (noch) spracharme Wirklichkeitswahrnehmung einzufinden.“ Um verstehen und sich verständigen zu können, brauchen Kinder passende Worte. Da sind zunächst Personen, Dinge und Tätigkeiten, die benannt werden wollen. Einfache Wörter, anfangs vor allem ein- und zweisilbige, werden von den Kleinen schnell aufgenommen. Da kann es schon mal passieren, dass der gerade einjährige Emil voller Begeisterung in Richtung Fernseher läuft und gleich selbst passend kommentiert: „Nein, nein, nein, nein, nein.“ Macht Mama schließlich auch immer so. Die Bedeutung an sich hat er jedoch noch nicht erfasst. Emil imitiert seine Mutter nur.
Wenn dann auch noch Emotionen und Gefühle dazu kommen, wird es deutlich schwieriger. Ist es doch selbst für Erwachsene eine Herausforderung über eigene Gefühle zu sprechen, geschweige denn sie zu benennen. Führt man sich all dies vor Augen, ist Sprache an sich schon eine Herausforderung, wenn man gerade dabei ist, die Welt in Worte zu fassen.
Warum ein NEIN so schwierig ist
„Nein ist ein hochgradig komplexer konzeptueller Begriff und nimmt viel Platz in unserem sprachlichen Logistiksystem ein“, so Fiona Lewald. Wenn es darum geht, eine Aussage zu verneinen oder etwas Konkretes abzulehnen, mag ein „Nein“ noch verständlich sein. Das „Nein“, das Lenes Mutter in der gefährlichen Situation mit der Schaukel ausgerufen hat, war aber etwas anderes: „Beim panischen, wütenden oder strengen Ausruf der vier Buchstaben fehlt die konkrete vorangestellte Äußerung“, so die Bloggerin. Lene hätte also erfassen müssen, dass sie, wenn sie weiterläuft, von der Schaukel umgestoßen wird: etwas, das erst in der Zukunft geschieht. „Wogegen der Ausruf sich stellt, muss vom Kind abstrakt aus dem jeweiligen Kontext abgeleitet werden. Einfach ist anders.“ Lene wusste nicht, worauf sich das „Nein“ bezieht: die Schaufel, die noch in ihrer Hand war, die Rutsche, die sie inspizieren wollte, der Bruder, der gerade laut gelacht hat oder, oder, oder… Einzige Möglichkeit, es herauszufinden: weiterlaufen. Bis Mama eingreift und Lene durch deren Reaktion erfährt, auf was genau das „Nein“ sich bezogen hat.
Selbst ältere Kinder und wenn man es genau nimmt auch wir Erwachsene haben damit ein Problem. Denn erst, wenn man gezielt nachfragen und die Situation angemessen reflektieren kann, ist es möglich, ein einfaches, alleine gestelltes „Nein“ richtig einzuschätzen. Andernfalls ist die Reaktion auf „Nein“ weniger ein Verstehen als ein antrainiertes Verhalten, eine Konditionierung. Nicht gerade, wie man mit seinen Kindern umgehen möchte, auch wenn zugegebenermaßen ein solches Signalwort in gefährlichen Situationen durchaus hilfreich ist.
Eine Verneinung erfordert doppelte Gehirnarbeit
„Nicht zur Schaukel!“ Welches Bild haben Sie nun im Kopf? Eine Schaukel? Tolle Sache, so eine Schaukel. Nichts wie hin! Es erfordert viel von einem Kind, vor allem wenn es gerade am Anfang des Spracherwerbs steht, eine negative Aussage in seinem Gehirn zu verarbeiten. Denn zunächst erlernen Kinder Nomen, Verben und Adjektive. Erst später, wenn die dazugehörigen Wörter verinnerlicht wurden, kommen kleine Wörtchen wie Präpositionen oder eben Negationen dazu.
Ein „Tu das nicht!“ erfordert zudem eine doppelte Anstrengung: In einem ersten Schritt muss das Gehirn die wesentlichen Bestandteile herausfiltern, um die Grundaussage des Satzes zu verstehen. „Unser Gehirn … muss zur Negierung der Aussage auch die Aussage selber in unserem semantischen System abrufen“, erklärt Fiona Lewald. „Nicht zur Schaukel!“ Lene kann dem Wort Schaukel, je nach Stand ihres bereits erworbenen Sprachschatzes, vielleicht schon das Ding zuordnen, auf dem ihr Bruder gerade so viel Spaß hat. „Um eine Negation zu verstehen, MUSS ich zuerst die positive Aussage aus dem Satz herausfiltern, um diese dann in einem zweiten Schritt ins Negative zu setzen.“ In wirklich wichtigen Situationen ist es also sinnvoll, positiv zu formulieren, ohne ein „Nicht“ im Satz. „Lene, bleib stehen!“ ist eine eindeutige Anweisung. Spricht sie doch das kleine Mädchen persönlich an und gibt ihr eine konkrete Handlungsanweisung, die sie direkt umsetzen kann – ohne einen komplizierten Umweg im Denken.
Verborgene Aussagen kann man nicht verstehen
Lene und ihr Bruder Tobi sind mittlerweile vom Spielplatz nach Hause gekommen. Ihre Mama rührt gerade im Topf, Tobi möchte gerne was Süßes essen. „Wir essen nichts Süßes, wenn ich gerade koche.“ Für die Mutter ist es völlig klar, dass es gleich Abendessen gibt, der hungrige Vierjährige allerdings fängt an zu weinen. Kinder sehen in den beiden Aussagen der Mutter keinen Zusammenhang, die eigentliche Aussage, nämlich dass es in wenigen Minuten Essen gibt, bleibt ihnen verborgen.
„Mütter drücken sich oft eher unklar aus“, beobachtet Claudia Mährlein. Auf dem Spielplatz etwa, wenn Lenes Mama zum Bruder sagt: „Wir müssen jetzt dann los.“ Was heißt das: jetzt dann? Kinder haben einerseits die Erfahrung Erwachsener noch nicht, was mit Wörtern wie dann, später, irgendwann, nie oder immer gemeint ist. Andererseits beobachtet der Junge womöglich, wie seine Mutter mit der Freundin noch redet und ihm dadurch eigentlich signalisiert „Wir bleiben noch“. Was genau meint die Mutter also mit ihrer Ansage? Während sie eigentlich erwartet, dass Tobi schon mal seinen Ball einsammelt und ihn in den Fahrradanhänger steckt, spielt der Junge weiter. „Bist du immer noch nicht bereit?!“ Da ist Stress vorprogrammiert.
Klarheit ist das Wichtigste
„Gute Kommunikation braucht Klarheit.“ Davon ist Claudia Mährlein, Coach für Gewaltfreie Kommunikation (GFK) und Neuro-Linguistisches Programmieren (NLP) überzeugt. „Ein Nicht sagt nicht, was man tun soll.“ Manchmal ist es einfacher zu sagen, was man nicht möchte, als konkret zu sagen, was man möchte. Aber gerade Kinder brauchen klare Ansagen um zu wissen, was von ihnen erwartet wird. Zum Beispiel könnte Tobis Mama sagen, dass in fünf Minuten Aufbruch ist, er schon mal seine Sachen zusammensuchen oder sich vom Freund verabschieden soll. Dabei das Kind ansehen, es berühren, wenn es gerade im Spiel versunken ist, es mit seinem Namen ansprechen hilft, die Aufmerksamkeit auf sich und das, was man mitteilen möchte, zu lenken. Allerdings sind fünf Minuten gerade für Kinder schwer einzuschätzen. Da kann ein Handywecker zum Beispiel gute Dienste leisten. Auch für die Mama, die sich dann ebenfalls daran halten kann, indem sie ihr Gespräch beendet und der Nachhauseweg angetreten wird. So kann aus dem Spielplatz-Aufbruch für alle Stress genommen werden.
Achtsame Kommunikation
Die GFK ist eine gute Methode, um mehr Klarheit in die Kommunikation zu bringen. „Gewaltfrei bedeutet achtsam, wertschätzend und am Ende auch zufriedenstellend miteinander zu kommunizieren“, so Claudia Mährlein. Sie vermittelt in Seminaren, Übungsabenden und Vorträgen für Erwachsene dieses Handlungskonzept, das Marshall B. Rosenberg bereits in den 60er-Jahren für eine friedliche Lösung von Konflikten entwickelt hat, weiter. Gerade in Schulen und Kindergärten sorgt das Konzept der GFK für eine bewusstere, ehrlichere und klarere Kommunikation. LehrerInnen und Eltern, aber auch Kinder untereinander lernen mit den vier Schritten der GFK einfühlsam, empathisch und damit vertrauensvoller miteinander umzugehen.
In vier Schritten zu mehr Achtsamkeit
Julius, 7, 12 oder auch 17 Jahre alt, kommt aus der Schule. Seine Mutter sieht kurz danach, dass die Jacke auf dem Boden liegt: „Du hast schon wieder deine Jacke runtergeschmissen. Wie oft habe ich schon gesagt, dass du die Jacke nicht auf den Boden werfen sollst?!“ Die Mutter ist sauer, der Sohnemann nach dieser Schimpftirade türeknallenderweise auch. Schwingt hier doch mit, dass Julius absichtlich, vielleicht sogar, um seine Mutter zu ärgern, die Jacke immer auf den Boden wirft. „Beginne ich ein Gespräch damit, nur zu sagen, was ich sehe, ohne eine Wertung abzugeben, geht es in eine andere Richtung“, erklärt Claudia Mährlein den ersten Schritt der GFK. Denn anstatt Julius vorzuwerfen, er hätte die Jacke runtergeschmissen, ist es im Sinne der GFK, wenn seine Mutter nur ihre Beobachtung schildert: „Deine Jacke liegt auf dem Boden.“ Wenn der Vorwurf weg ist, erlaubt dies nicht nur Julius, anders zu reagieren.
Danach folgt das Schildern des Gefühls: „Es macht mich traurig“, „Ich fühle mich genervt“, „Ich bin frustriert“ oder was auch immer es ist, das es mit einem macht, dass etwa die Jacke „immer“ am Boden liegt. Was empfinde ich dabei? Wer die Antwort klar und ehrlich zum Ausdruck bringt – und Kinder spüren das – zeigt damit auch, dass es in Ordnung ist, zu seinen Gefühlen zu stehen.
Der dritte Schritt ist das Äußern eines Bedürfnisses. „Das Gefühl ist der Türöffner für ein Bedürfnis“, so Claudia Mährlein. Worum geht es mir wirklich? Julius Mutter hat vermutlich ein Bedürfnis nach Ordnung, danach, dass die Wohnung aufgeräumt ist, dass keine Stolperfallen im Weg sind oder dass jeder selbst für seine Sachen sorgt. Julius wollte vielleicht nur schnell auf die Toilette oder die Jacke ist ihm vom Haken gerutscht oder Ordnung ist einfach nichts, was für ihn in diesem Moment eine Bedeutung hat. Er und seine Mutter haben unterschiedliche Bedürfnisse. Daher ist es wichtig, sein eigenes Bedürfnis überhaupt erst mal zu erkennen, um es schließlich zu äußern. Denn oft weiß das Gegenüber nicht, warum man sauer, traurig oder wütend reagiert.
Komplett ist das Ganze aber erst, wenn die Mutter im letzten und vierten Schritt eine erfüllbare Bitte an ihren Sohn richtet, ihm damit die Chance gibt, etwas zu tun. Wenn Julius wirklich dringend auf die Toilette muss, wenn er von der Schule kommt, ist es für ihn nicht erfüllbar, die Jacke direkt nach Betreten der Wohnung aufzuhängen. Die Bitte könnte also lauten, die Jacke noch vor dem Mittagessen an den Haken zu hängen.
Sei du, sei echt!
Natürlich klingen die vier Schritte ausformuliert etwas sperrig: „Ich sehe, deine Jacke liegt auf dem Boden. Ich bin darüber traurig, denn für mich ist es wichtig, dass hier aufgeräumt ist. Ich bitte dich, deine Jacke noch vor dem Mittagessen an den Haken zu hängen.“ „Bei sehr kleinen Kindern genügt oft Schritt vier. Wenn ich als Mutter oder Vater aber die ersten drei Schritte für mich selbst getan habe, kann ich meinem Kind ganz klar sagen, was ich von ihm erwarte“, so Claudia Mährlein. „Kurze Sätze – keine Fragen – positiv formuliert – besonders, wenn man sich dafür auf Augenhöhe begibt und in die Knie geht: so kommt die Botschaft nicht nur bei Kindern an.“
Und ihr vielleicht wichtigster Tipp: „Sei echt!“ Man sollte sich gerade als Eltern bewusst darüber sein, dass trotz der großen Bedeutung von Sprache auch andere Wege der Kommunikation existieren. Kinder haben feine Antennen, die spüren, was man wirklich meint, denn auch der Körper spricht. Sollte, hätte, könnte, müsste ist oft Ausdruck dessen, was andere erwarten. Nicht das, was ich selbst möchte. Bin ich mir aber klar über mein eigenes Bedürfnis, bin ich authentisch, echt und wirke auch so.
Es bedarf einiger Übung, bis man sich angewöhnt hat, in den vier Schritten der GFK zu denken, es sich natürlich anfühlt, so zu kommunizieren. Und bis man in seiner Familie eine achtsame Art, miteinander umzugehen, etabliert hat. „Gerät man in Stress, macht man das, was man selbst erfahren hat. Es braucht Achtsamkeit, um Dinge zu ändern.“ Es geht nicht von heute auf morgen. Man kann ganz ohne Druck dranbleiben und es immer wieder versuchen. „Am besten in Situationen, wenn es mir gut geht und gerade kein Problem zu lösen ist“, empfiehlt Claudia Mährlein. Denn es ist eine Chance, für sich selbst klar zu werden, was es ist, das ich fühle, warum ich das brauche, um zufrieden und ausgeglichen zu sein und um anderen mitteilen zu können, wie sie mir damit helfen können. Auch als Vorbild für unsere Kinder. (ab)
Fiona Lewald ist Mitte zwanzig, Mutter einer vierjährigen Tochter, und zurzeit schwanger mit dem zweiten Wunschkind. Auf ihrem Blog „Unverbogen Kind Sein“ schreibt sie seit 2017 über Erziehungsverzicht, Bindungsorientierung, Kindergartenfrei und andere Familienthemen.
www.unverbogenkindsein.de
Claudia Mährlein begleitet und berät Menschen. Dass diese sich oft unklar ausdrücken, wurde ihr erst bewusst, als sie die gewaltfreie Kommunikation kennengelernt hat. Seither beeinflusst GFK ihr Coaching nachhaltig. In Basiskursen vermittelt sie die Grundlagen der gewaltfreien Kommuni-
kation. Dieses Wissen kann in regelmäßigen Übungsabenden erhalten und aufgefrischt werden.
www.claudia-maehrlein.de
Nächste Termine:
GFK-Basiskurse 2020:
3 Abende, je Di, 17.11. – 01.12.2020: 19 – 21 Uhr
im Holzerbau Hochzoll, Neuschwansteinstr. 23 a, Augsburg
Sa + So, 14. / 15.11.2020: 10 – 15 Uhr in den Räumen der Heilpraktikerin
Claudia Kempf, Bahnhofstr. 1, Bobingen
GFK-Übungsabende 2020:
Immer im Holzerbau Hochzoll, Neuschwansteinstr. 23 a, Augsburg
von 19 – 21 Uhr
09.09., 23.09., 15.10., 26.11. + 09.12.2020
INFO
3. Workshoptag
Gewaltfreie Kommunikation
voraussichtlich Sa 10.10.2020
Freie Waldorfschule Augsburg, Dr.-Schmelzing-Str. 52
Infos, Programm und Anmeldung:
www.netzwerk-gewaltfrei-augsburg.de
Foto: Adobe Stock, Wayhome-Studio