Ratgeber Familienalltag: „Ich will aber NICHT!!!“ – Wenn der Nachwuchs seinen eigenen Willen hat

Junge mit bösem Blick
HINWEIS: Dieser Artikel ist älter als ein Jahr (Erscheinungsdatum: 30. Oktober 2020). Es kann sein, dass Inhalte dieses Artikels sich geändert haben. Hier geht es zu unseren aktuellen Meldungen.

Warum Eltern sich über die Widerworte ihrer Kinder freuen sollten und wie sie trotzdem liebevoll reagieren können.

„Wenn ich da jetzt nachgebe, erziehe ich doch einen kleinen Tyrannen.“ Diesen Satz hört Sozialpädagogin und KJF-Erziehungsberaterin Renate Rodler sehr häufig. Aber entscheidender als die vermeintlich so wichtige Konsequenz ist die Beziehung zum Kind. Welche Botschaften hinter Widerworten der Kinder wirklich stecken und wie Eltern besser darauf reagieren als mit Gegendruck, erklärt die erfahrene Erziehungsberaterin im Gespräch mit liesLotte.

„Widerworte sind Ausdruck der Lebenskraft! Freuen Sie sich also erst einmal über die Stärke und Willenskraft Ihres Kindes“, sagt Renate Rodler, die als Erziehungsberaterin in der KJF Erziehungs-, Jugend- und Familienberatung in Augsburg arbeitet. „Wirklich Sorgen müssten Sie sich um Ihr Kind eher machen, wenn es immer lieb und brav Ja sagt und keine Wünsche oder Forderungen stellt.“

Erziehung braucht Mut und Ermutigung. Davon ist Renate Rodler überzeugt, die regelmäßig einen Elternkurs mit dem Titel „Ermutigende Erziehung“ anbietet. „Eltern erleben die Erziehung ihrer Kinder manchmal als sehr anstrengend und nervenaufreibend.“ Gute Vorsätze und theoretische Ideen gehen häufig im Alltag und in der jeweils als stressig empfundenen Situation verloren. „Im Schnitt sind 80 Prozent der Signale, die Erwachsene an Kinder senden, Kritik oder hängen mit Situationen zusammen, in denen wir etwas besser wissen.“ Dabei erfahren Eltern häufig, dass sie mit Druck und Belehrungen nicht weiterkommen.

Eltern haben es eilig, das Kind aber nicht
Zum Beispiel morgens beim Start in den Tag. Der Klassiker unter den Widerworte-Situationen ist wohl das Thema Anziehen: „Jonas, komm jetzt bitte anziehen, wir müssen los!“ Papa oder Mama wollen morgens pünktlich aus dem Haus, ob zur Arbeit oder zu einem Arzttermin, doch der fünfjährige Sohn ist gerade in seine Fantasiewelt abgetaucht und jagt als T-Rex durchs Wohnzimmer. Die mehrmals aus dem Flur gerufene Bitte der Eltern dringt überhaupt nicht von seinem Ohr in sein Gehirn durch. Irgendwann steht dann ein schon völlig genervter Elternteil plötzlich vor ihm und verlangt: „Jetzt hier, ziehe deine Schuhe an, sofort!“ Seine Antwort: „NEIN! Ich will aber nicht gehen!“ Doch was kann in einer solchen Situation hinter den vermeintlichen Widerworten des Nachwuchses stecken?

Kinder zeigen mit ihrem Verhalten ihre Bedürfnisse
„Das Kind zeigt mit seinem Verhalten seine Bedürfnisse“, erklärt Renate Rodler. Neben den rein körperlichen Grundbedürfnissen nach Nahrung, Schlaf und Sicherheit haben Kinder, wie Erwachsene, existenziell soziale Grundbedürfnisse. Dazu gehört, dass sie sich zugehörig fühlen, sich selbst als fähig erleben und beachtet werden. „Kinder wollen kooperieren und suchen nach Lösungen. Kinder nerven oder provozieren uns nicht absichtlich“, betont die Erziehungsberaterin. Aber sie möchten eben zum Beispiel ihrem Alter und ihrer Fähigkeit entsprechend auch beitragen, etwa beim Einkaufen mithelfen oder eine Sache entscheiden dürfen, die sie gerne essen und in den Wagen legen dürfen, statt brav und teilnahmslos nebenherlaufen zu müssen. Ein natürlicher Entwicklungsschritt des Kindes ist es ja auch, dass es meist rund um den dritten Geburtstag herum seine Ich-Stärke und seine Selbstwirksamkeit entdeckt. Es will selbstständig handeln und seine eigenständige Meinung haben dürfen.

Sagt ein Kind Nein, kann das ein Zeichen von Überforderung sein, zum Beispiel dass es vom Wunsch des Papas, jetzt vom Spielplatz nach Hause zu gehen, überrascht und noch in sein Spiel vertieft ist; oder es ist total müde und hungrig.

Kinder brauchen den freundlichen Blick ihrer Eltern
Kinder brauchen außerdem einen freundlichen Blick, sonst fühlen sie sich angegriffen und gehen in die Abwehr. „Versetzen Sie sich doch selbst einmal in eine Situation, in der sie zum Beispiel vom Chef, einem Kollegen, einem Nachbarn oder vielleicht auch im Straßenverkehr von einem Fremden barsch dazu aufgefordert werden, etwas zu tun, was sie nicht wollen oder woran Sie gerade nicht gedacht haben“, sagt die Erziehungsberaterin. „Wie geht es Ihnen in einer solchen Situation? Sind sie selbst dann bereit, widerstandslos, sofort, freundlich, brav und lieb das zu machen, was der andere verlangt?“

Sehr oft hört Renate Rodler in ihren Beratungen von Eltern den Satz: „Wenn ich nachgebe, dann entwickelt sich mein Kind doch zu einem Tyrannen. Ich muss doch konsequent sein.“ Aber schon bei einem solchen Gedanken, ist man mit seinen Gefühlen nicht mehr beim Kind, so die Erziehungsberaterin. Vielmehr stecken Väter und Mütter selbst in der Zwickmühle der Erwartungen oder Anforderungen aus dem Umfeld – „Was denken die anderen dann über mich?“ – und ihren eigenen Vorstellungen, was sie glauben, als Eltern tun zu müssen.

Einfach einmal anders reagieren und was ausprobieren
Ein Patentrezept und eine kurze Antwort darauf, wie solche Situationen „klappen“, gibt es laut Renate Rodler nicht. Menschen sind keine Maschinen, die auf Knopfdruck reagieren. Kinder erst recht nicht. Vielmehr sollen sie ihre Lebenskraft behalten und so sein dürfen und geliebt werden, wie sie sind. Darum ist es Renate Rodler wichtig, dass Eltern wieder zu einer Leichtigkeit zurückfinden und zu sich selbst, zu ihrer inneren Ruhe und Gelassenheit. Hier ein paar Ideen, was Eltern statt Schimpfen oder mit Strafen drohen tun können – in Situationen, in denen die Kinder Widerworte geben oder sehr fordernd ihren Willen kundtun.

  • Warten Sie einen Moment – atmen und überlegen Sie! Ein Nein des Kindes ist manchmal auch Ausdruck dafür, dass es überfordert, überreizt ist oder etwas zu schnell gehen soll. Lassen Sie sich aufs Kind ein – was könnte los sein, was könnte die Botschaft hinter den Widerworten sein?
  • Gehen Sie zu Ihrem Kind, gehen Sie auf Augenhöhe und stellen Sie Blickkontakt und eventuell auch einen sanften, liebevollen körperlichen Kontakt mit dem Kind her. Wichtig ist, dass Eltern ihrem Kind einen freundlichen, offenen Blick schenken, denn ein drohender Blick verängstigt oder macht die Kinder aggressiv. Wichtig ist auch, dass Eltern mit kurzen, einfachen Worten beschreiben, was sie vom Kind möchten, dabei möglichst in Ich-Form sprechen: „Ich möchte, dass du jetzt deine Schuhe anziehst, damit wir los können.“
  • Hören Sie auf mögliche Vorschläge Ihres Kindes oder geben Sie ihm eine Wahlmöglichkeit, zum Beispiel zwischen zwei Paar Schuhen oder zwei Jacken.
  • Je nach Situation kann auch Nichtreagieren eine Lösung sein. Bleiben Sie stattdessen bei Ihrer Handlung. Stellen Sie Ihrem Kind zum Beispiel die Schuhe hin und ziehen Sie sich dann selbst weiter an.
  • Verlieren Sie nie den liebevollen Blick auf das Kind! Überlegen Sie, ob in diesem Moment eine Sache wirklich absolut notwendig ist oder ob Sie nachgeben und Ihrem Kind zum Beispiel heute beim Anziehen helfen, weil es vielleicht eine unruhige Nacht hatte. Und wenn Sie trotzdem beim Nein bleiben, dann trösten Sie Ihr Kind in seinem Frust, gerade wenn Sie selbst die Ursache dafür sind.
  • Sagen Sie öfter Ja zu ihrem Kind als Nein! Überlegen Sie bei einem Vorschlag oder Wunsch des Kindes, ob wirklich ernsthaft etwas dagegen spricht.
  • Zeigen Sie Verständnis und sprechen Sie in Ich-Botschaften, zum Beispiel so: „Ich sehe, dass du lieber selber laufen willst, als an der Hand zu gehen.Aber diese Straße ist mir zu groß, da habe ich Sorge um Dich. Aber ich verstehe, dass du es allein machen wolltest.“

„Ich weiß, dass manche Eltern beim Lesen solcher Tipps vielleicht gleich denken: ’Das klappt bei uns doch sowieso nicht.’ Aber ich möchte Eltern ermutigen, einfach einmal einen
neuen Weg auszuprobieren und abzuwarten, was passiert. Lassen Sie die Erwartungshaltung los, dass es immer klappen muss. Mit Kindern klappt nie alles! Familie ist nicht Friede, Freude, Eierkuchen, sondern die ständige Chance, an sich zu wachsen. Und lassen Sie sich nicht verführen, dass es um Konsequentsein geht. Kommen Sie aus der Haltung heraus, dass Erziehung kämpferisch sein muss. Es geht nicht darum, gewinnen zu müssen, sondern um einen liebevollen und offenen Blick, der Ausdruck und Grundlage für eine positive Beziehung zwischen Eltern und Kind ist.“

INFO:
Renate Rodler
Sozialpädagogin, Encouraging-Trainerin (ADI)
KJF Erziehungs-, Jugend- und Familien-
beratung, Gartenstr. 4, Augsburg
Tel.: 0821 / 45 54 10-0,
eb.augsburg@kjf-kjh.de

www.kjf-kjh.de/erziehungsberatung

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