Ratgeber Familienalltag: Von Generation zu Generation

Drei Generationen Männer
HINWEIS: Dieser Artikel ist älter als ein Jahr (Erscheinungsdatum: 30. September 2022). Es kann sein, dass Inhalte dieses Artikels sich geändert haben. Hier geht es zu unseren aktuellen Meldungen.

Die heftigsten Machtkämpfe in Familien entstehen oft aus den alltäglichen Kleinigkeiten. Bei kleineren Kindern das Zähneputzen, bei größeren dann die Hausaufgaben oder Schule im Allgemeinen: Oft geht es um Situationen, in denen Eltern meinen, genau zu wissen, was für ihr Kind das Beste ist, die Kinder aber eigene Pläne haben. Zwei Positionen prallen aufeinander und entzünden einen Konflikt, bei dem sich alle Beteiligten hinterher fragen, wie er derart eskalieren konnte.

Die Eltern fühlen sich in solchen Situationen hilflos. Sie wollen natürlich nur das Beste für ihr Kind, kriegen aber diese Wünsche nicht durch das Kind umgesetzt. Gleichzeitig können sie selbstverständlich auch nicht sämtliche Entscheidungsgewalt auf das Kind übertragen, denn dazu sind die Kleinen noch nicht in der Lage. Es braucht durchaus eine Führung, aber eben keine autoritäre, sondern aus einer authentischen Haltung heraus.

Seit einigen Jahren hilft Alexandra Köhler als systemische Kinder- und Jugendcoach Familien, die nicht mehr weiter wissen, wieder zu sich zu finden. Dabei bekommt sie oft den Eindruck, dass sich Symptome über einen längeren Zeitraum entwickeln und der Konflikt durch den elterlichen Versuch, das Kind „geradezubiegen“ eskaliert. Erst nachdem die Eltern feststellen, dass sie ihr Kind nun einmal nicht ändern können, sind sie bereit, ihre eigene Prägung zu hinterfragen, um die Situation nachhaltig zu verbessern.

Der (groß-)elterliche Einfluss
Bei einigen Erziehungsmethoden wissen Eltern sehr genau, ob sie sie von ihren eigenen Eltern übernehmen möchten oder nicht. Es gibt aber auch vieles, was Eltern unbewusst auf ihre Kinder übertragen, sei es durch konkrete Handlungen oder durch die zugrundeliegenden Haltungen. Diese unbewusste Prägung und ihre Konsequenzen sind laut Alexandra Köhler für viele Erziehungskonflikte verantwortlich, da sie eine authentische Erziehungshaltung blockieren.

Zu den konkret erlebten Erziehungshandlungen gehört für die heutige Elterngeneration oft die Erfahrung, dass Bindung an Bedingungen geknüpft ist. Zur Strafe allein gelassen zu werden oder das Kind zum Einschlafen schreien zu lassen, ist heute glücklicherweise seltener geworden, aber in der aktuellen Elterngeneration schwingt durch diese Erfahrungen immer die unterschwellige Angst vor dem Bindungsverlust mit. Aus dieser Angst entwickelt sich das Gefühl, die eigenen Kinder schützen zu müssen, sowohl vor äußeren Einflüssen als auch vor den elterlichen Gefühlen, um ihr Grundbedürfnis nach Sicherheit und Bindung zu erfüllen.

Die heutigen Kinder allerdings wachsen meist sehr sicher gebunden auf, sodass ihr Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit viel größer ist als das nach Sicherheit. Sie sind daher bestrebt, sich dem elterlichen Schutz zu entziehen, um ihre Autonomie auszuleben. Das Kind fordert Vertrauen, während die Eltern aufgrund ihrer eigenen Prägung vieles als gefährlich empfinden. Daraus entstehen, laut Alexandra Köhler, die unter Eltern allseits bekannten Autonomiekämpfe, die deshalb so sehr an die Substanz gehen, da sie im Spannungsfeld der beiden menschlichen Grundbedürfnisse nach Schutz, Sicherheit und Bindung sowie nach Selbstwirksamkeit und Autonomie ausgetragen werden.

Eigene Grenzen wahren ohne Bindungsgefährdung
Aus ihrer eigenen Kindheitserfahrung haben viele Eltern außerdem die Haltung übernommen, dass laut werden ebenso verboten ist, wie andere Gefühle zu zeigen. Kinder überprüfen naturgemäß immer wieder, wo die elterlichen Grenzen verlaufen. Und wer in der Lautstärke nicht eskalieren darf, tut es dann auf der Ebene der Sanktionen. Dies führt leider oft zu Strafen, die die Bindung in Frage stellen wie etwa: „Dann gibt es keine Gute-Nacht-Geschichte“. Dies vermittelt den Kindern, dass die Bindung an Bedingungen geknüpft ist, wie damals als die Eltern selber klein waren.

Natürlich wäre es schön, wenn Familien konfliktfrei durch ihren Alltag kämen. In der Realität ist das aber nicht so und der Wunsch allein hilft dann leider auch nicht weiter. Aber warum erlauben Eltern sich nicht, in Ausnahmesituationen auch mal laut zu werden? Warum unterdrücken sie Gefühlsausbrüche und bedienen sich lieber bindungsgefährdender Sanktionen? Freundschaften und Paarbeziehungen unter Erwachsenen funktionieren ja auch nicht mit Androhungen und Strafen.

Auch Kindern gegenüber wäre es laut Alexandra Köhler authentischer, sich die eigene Lautstärke nicht grundsätzlich zu verbieten und in der Konsequenz offen zu den eigenen Gefühlen zu stehen. Denn „die Notwendigkeit, laut zu werden, verringert sich in dem Maße, in dem ich mir erlaube, laut zu sein. Selbstverständlich ist dies kein Freibrief, den eigenen Emotionen ungezügelten Lauf zu lassen. Eltern müssen hierfür die Verantwortung übernehmen“. Solange die Kinder sich sicher sein können, dass die Bindung unter keinen Umständen von ihrem Verhalten abhängig gemacht wird, können sie auf dieser sicheren Grundlage aufbauend lernen, dass Gefühle – sogar sehr starke und negative – etwas ganz Natürliches sind und dass man auch mit diesen umgehen kann ohne die Beziehung aufzukündigen.

Die Tücken der bedürfnisorientierten Erziehung
Laut Alexandra Köhler liegt ein Teil des Problems darin, dass der Begriff der „bedürfnisorientierten Erziehung“ oft falsch verstanden wird. Sie beobachtet häufig, wie Eltern unbedingt alle Bedürfnisse ihrer Kinder erfüllen und ihre Grenzen auf keinen Fall überschreiten möchten. Dabei lassen sie aber ihre eigenen Grenzen und Bedürfnisse außer Acht. Natürlich können Erwachsene ihre Bedürfnisse eher mal aufschieben als Kinder, die dies erst noch üben müssen. Eltern sollen ihren Kindern gegenüber aber auch authentisch sein und ihnen eine gewisse Selbstfürsorge beibringen, die sie idealerweise vorleben. Dafür müssen sie darauf achten, dass ihre eigenen Bedürfnisse nicht zu kurz kommen. Dass Bedürfnisse kollidieren und daraus Konflikte entstehen, ist ganz normal und Kinder müssen früher oder später lernen, wie solche Konflikte zu lösen sind. Wie das funktioniert, leben ihre Eltern ihnen vor, denn Kinder lernen, was wir wissen und leben, nicht, was wir uns wünschen.

Erst Haltung, dann Handlung
Wenn Kinder eine auffällige Symptomatik entwickeln, reagieren Eltern meist damit, am Kind etwas ändern zu wollen. Dabei ist das Verhalten von Kindern oft nur der Ausdruck innerer und familiärer Lebenserfahrungen. Die Probleme kommen laut Alexandra Köhler selten aus dem Kind selber, sondern meist aus den gelebten Bindungskonstellationen der Familie. Sie ist davon überzeugt, dass es keine Handlungsanweisungen braucht, wie sie so viele Erziehungsratgeber bereithalten, sondern zunächst einmal eine andere Haltung. Denn aus dieser ergibt sich die Handlung dann intuitiv.

Die Hürde, sich Hilfe von außen zu holen, wird oft als sehr hoch empfunden. Daher hat Alexandra Köhler die Grundlagen ihrer Arbeit nun in einem Buch verschriftlicht. Sie hofft, dass dies einigen Eltern als Inspiration dienen möge, die innerfamiliären Bindungsstrukturen zu hinterfragen und gegebenenfalls daran zu arbeiten, schon lange bevor die Situation eskaliert. Denn laut Alexandra Köhler ließe sich dadurch viel Leid ersparen. Genau wie ein Coaching, braucht auch das Buch die Bereitschaft, sich einzulassen auf eine intensive Erkundung der eigenen Wahrnehmungen und Gefühle. Aber es lohnt sich! (mb)

INFO:
Alexandra Köhler ist systemischer Familiencoach sowie Kinder- und Jugendcoach und Gründerin der Kinderflüsterei Familiencoaching GmbH.

Mit ihrer Arbeit möchte sie Eltern helfen, die eigenen Modelle und Überzeugungen kritisch zu hinterfragen, um diese nicht unreflektiert an die nächste Generation weiterzugeben.

www.kinderfluesterei.de

Foto: Adobe Stock, Volodymyr