Titelthema: Biologisches oder gefühltes Geschlecht?

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HINWEIS: Dieser Artikel ist älter als ein Jahr (Erscheinungsdatum: 11. Oktober 2018). Es kann sein, dass Inhalte dieses Artikels sich geändert haben. Hier geht es zu unseren aktuellen Meldungen.

„Kann der junge Herr mal aufstehen, bitte?“ Lisa gibt ihren Platz in der Straßenbahn  selbstverständlich für die Dame mit den Krücken frei. Dass sie für einen Jungen gehalten wird, stört sie nicht. Auch wenn ihr zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar ist, warum das so ist. Das war vor fast zehn Jahren. Heute sitzt der 23-jährige Luca an ihrer Stelle. Er ist ein Trans*junge. Das heißt, das biologische Geschlecht ist das eines Mädchens, aber das empfundene Geschlecht ist männlich.

Geschätzt leben etwa 100.000 Menschen in Deutschland, mit Dunkelziffer vermutlich weit mehr, mit einer Transidentität. Diese bezeichnet den Widerspruch zwischen der bei der Geburt zugeschriebenen Geschlechtszugehörigkeit, also den körperlichen Merkmalen, und der selbst erlebten Geschlechtszugehörigkeit. Demgegenüber stehen die Cis-Menschen, deren körperliches und gefühltes Geschlecht identisch sind. Die Begriffe stammen aus dem Lateinischen: trans für jenseits und cis für diesseits. Wer sich als trans* bezeichnet, fühlt sich nicht wie im anderen Geschlecht, er ist es. Oft heißt es, die Menschen sind im falschen Körper geboren.
„So würde ich das nicht bezeichnen. Es ist ja schließlich mein Körper“, sagt
Noah. Auch er ist ein Trans*-Junge, 20 Jahre alt.

Auf der Suche nach Identität

In einer großen Studie mit mehr als 5.000 LSBT*-Teilnehmern hat das Deutsche Jugendinstitut (DJI) die Lebenssituation von lesbischen, schwulen, bisexuellen und trans* (LSBT*) Jugendlichen unter die Lupe genommen. Es ist verblüffend, dass mehr als ein Drittel aller Befragten sagt, dass sie schon immer oder unter zehn Jahren bereits ein Bewusstsein für ihre geschlechtliche Identität hatten. „Ich fand es normal, wie ich bin.“ Die 23-jährige Elli erzählt, wie sie, damals noch als kleiner Junge, mit Puppen gespielt hat und bereits in der Grundschule Nagellack getragen hat. Ihre Mutter lässt sie, denn es wird deutlich, dass es keine kurze Phase des Ausprobierens ist. Immerhin konnte sie selbst bereits mit etwa acht Jahren sagen, dass sie eine Frau ist. Bei Luca und Noah hat es etwas länger gedauert. Beide sagen, dass ihnen bis zur Pubertät nicht bewusst war, was es ist, das sich nicht stimmig anfühlt. Luca ging es psychisch in der Pubertät sehr schlecht. Da waren Selbstverletzungen. Er war depressiv und suizidal, daher in Therapie: „Es ging eigentlich um andere Dinge, aber auch um meine sexuelle Orientierung.“ Ausgehend von a- oder bisexueller Neigung hat Luca sich auf YouTube Informationen gesucht, Erfahrungen anderer angesehen. Darüber stieß er auf das Trans*-Thema, das er als 20-Jähriger dann auch auf sich bezieht. Ähnlich erging es Noah, der ebenfalls sagt: „Bis zur Pubertät war alles o.k.“ Doch dann wurde er tief unglücklich ohne erkennbaren Grund. Er stieß über Google auf die Möglichkeit der Trans*-Identität. Dieses Wissen, dass es Menschen gibt, deren Körper die falschen Geschlechtsmerkmale aufweist, hat für beide vieles einfacher, verständlicher gemacht. Und beide auf ihren Weg gebracht, der allerdings noch lange nicht zu Ende ist.

Schwierige Zeiten für betroffene Kinder

„Im Rückblick könnte man schon viel früher reindeuten, dass ich trans* war“, sagt Luca. Er war ungern unter Menschen, hat vermieden, wenig anzuziehen, was allerdings auch seinen Selbstverletzungsmarken geschuldet war. Geduscht hat er oft nur im Dunkeln, um seinen eigenen Körper nicht im Spiegel sehen zu müssen. Bei Noah, damals noch Anna, gab es allerdings schon sehr früh Anzeichen, die ihm selbst aber gar nicht ungewöhnlich erschienen. In der Grundschule schnitt Anna ihre Haare ab, wollte nur noch kurze Hosen tragen und Anton genannt werden. „Das war der einzige Jungenname mit A, der mir einfiel“, erinnert sich Noah. „Mein Vater, der damals wohl eine entsprechende Reportage gesehen hatte, fragte mich, ob ich im falschen Körper lebe. Aber zu dieser Zeit habe ich die Frage gar nicht verstanden.“ Anders bei Elli. Sie stand im Alter von elf Jahren vor dem Spiegel und wollte ihren Penis abschneiden. Die Mutter reagierte und ging zum Kinder- und Jugendpsychologen, der den langen Weg des Kindes begleitete. Es dauerte eine ganze Weile, bis Elli mit 15 Jahren den sogenannten Alltagstest absolvierte. Bis dahin wurde sie gemobbt und als schwul gehänselt. Erst nach ihrem Outing und dem „Probeleben“ als Mädchen war allen klar, wer sie ist.

Solange die eindeutige Ausbildung der Geschlechtsmerkmale nicht stattgefunden hat, belastet die Situation manche noch nicht so sehr. Doch gerade in der Pubertät bemerken Trans*-Jugendliche ganz deutlich, dass ihr Körper eine Richtung einschlägt, die sie so nicht möchten. Das ist eine schwere Belastung und hat nichts mit einem „Ich will anders sein“ oder einer Provokation zu tun. Das gelingt viel eher durch eine gespielte Rolle, schließlich geht es dabei meist um eine Anerkennung in Gleichaltrigengruppen. Noah kopiert seine beste Freundin, versucht so, Mädchen zu sein. Und auch Luca, der an einer Mädchenschule war, versucht sich anzupassen. All das, um keine blöden Sprüche zu kassieren und nicht aufzufallen. Angenehm war es für beide nicht. Noah outet sich nach einem Auslandsjahr, noch in der Schule. Die meisten Lehrer und Schüler akzeptieren dies. Leider nicht alle.

Denkweisen gilt es zu überdenken

Es ist verblüffend, dass Lehrpläne immer noch an veralteten Denkmodellen festhalten. „Schwul und lesbisch wird zwar inzwischen akzeptiert, alles andere – eben auch Transgender – wird totgeschwiegen.“ Simone, die Lehrerin und Mutter eines jungen Trans*-Mannes, wünscht sich mehr Aufklärung über die Formen der Identität und Sexualität, die es gibt. Vor allem, um so mehr Verständnis für ein Abweichen von der gedachten Norm zu wecken. Ihr Kind war lange in psychotherapeutischer Behandlung, auch in Kliniken und mit psychosomatischen Medikamenten, bis es selbst erst mit 17 Jahren entdeckte, dass es Trans*-Menschen gibt: „Trans* war nicht in meinem Denkmodell, mir war bis dahin nicht bewusst, dass es so etwas gibt.“ Da selbst der behandelnde Psychologe das Thema abgeblockte, hat es noch eine ganze Weile gedauert, bis ihr Kind sagen konnte: „Ich bin ein Junge!“ Endlich war klar, was los ist. „Ich habe mein Kind mit anderen Augen gesehen. Die Welt war wieder in Ordnung.“

Gerade für Eltern nicht einfach

Auch Noah hat Glück, seine Eltern stehen hinter ihm und gehen den Weg mit ihm. „Der typische Spruch ‚An ihr ist ein Junge verloren gegangen‘ passte schon immer. Ich wusste, er war sehr burschikos, dachte aber nie an eine Umgestaltung“, sagt der Vater im Rückblick. Er erinnert sich, als er mit seiner Tochter die Zauberflöte ansah: „Sie war 15 und wollte sich dafür hübsch machen, mit einem blauen Kleid. Aber es war unstimmig.“ Er sieht, dass Noah zwar immer wieder versucht hat, in weibliche Rollen zu schlüpfen, diese aber nicht gepasst haben. „Als Kind litt Anna stark. Seit sie als Mann lebt, sehe ich deutlich eine sehr positive Entwicklung!“ Schade empfindet der Vater nur, dass sein Sohn biologisch nie ein Mann sein wird. Dass für ihn Familienleben, Kinderwunsch und Sexualität vielleicht schwierig werden. „Er soll glücklich sein. Das ist das Wichtigste!“

„Als Mutter will man sein Kind unterstützen, egal was kommt. Den Rücken stärken, begleiten, auch wenn sich unvorhergesehene Entwicklungen anbahnen: Das ist, was Eltern tun. Man will das Beste für sein Kind“, sagt die Mutter. Für sie bleiben aber auch Zweifel und Unsicherheiten. Und doch ist sie für ihren Sohn da. So wie der Rest der Familie: Die Oma, die ihn als Jungen akzeptiert, oder die Geschwister, die vielleicht sogar besser mit ihm klar kommen, seit die Rollen klar sind. Für Luca ist es schwieriger. Seine Eltern zeigen keine Akzeptanz. Seit einem Jahr nimmt er Homone, macht aber dazwischen fünf Monate Pause. Es ist ein Schritt zurück, seiner Mutter zuliebe, die ihn bittet, es zumindest zu versuchen, als Frau zu leben. Aber es geht nicht, er merkt das sehr deutlich. „Es ist eine ungeheure Hilfe, wenn die Eltern hinter einem stehen. Kinder sollen so aufwachsen dürfen, wie sie es möchten. Ein ‚Umerziehen‘ geht immer nach hinten los“, sagt Elli, deren Mutter ihr nie Steine in den Weg gelegt hat. Sie hat sie nur darauf hingewiesen und mit ihr darüber gesprochen, dass es vielleicht für die anderen Kinder komisch wirken könnte, wenn sie als Junge mit Kleidern oder langen Haaren in die Schule geht. Und so durfte Elli ihre Weiblichkeit zu Hause ausleben und erschien zumindest äußerlich neutral in der Schule.

Professionelle Begleitung – sinnvoll und gewünscht

„Eltern sollen die Kinder ausprobieren lassen, ihnen Freiräume geben und das Experimentieren erlauben. Unterstützt sie, egal bei was, auch wenn es falsch gewesen ist.“ Darin sind sich Luca und Noah einig. Beide empfehlen auf jeden Fall eine Begleittherapie. Denn da ist eine externe Person zum Reden, das lässt manches viel klarer erscheinen. Außerdem ist eine psychologische Indikation nötig, um eine Hormonbehandlung beginnen zu können. Diese beginnt frühestens nach sechs Monaten in Therapie. „Man hat Zeit, einen Rückzieher zu machen!“, sagt Luca.Dabei ist es gerade bis spätestens sechs Monate nach Beginn der Pubertät sinnvoll, Pubertätsblocker einzusetzen. So bilden sich die Geschlechtsmerkmale wie weibliche Brüste oder die männliche Behaarung erst gar nicht aus. Die Pubertät wird hinaus geschoben und die Jugendlichen haben eine Art Probezeit im gewählten Geschlecht. „Ich empfehle allen Eltern, die einen Verdacht haben, das psychologisch abklären zu lassen.“ Das ist ein zentraler Punkt, den Noahs Vater hier anspricht. Denn dass man in psychologische Behandlung geht oder eine Beratungsstelle aufsucht, heißt noch lange nicht, dass eine Geschlechtsangleichung in Frage kommt. Es ist eine Begleitung auf einem Weg mit unbekanntem Ausgang. Vielleicht entscheidet man sich, wieder oder weiterhin im Geburtsgeschlecht zu leben. Oder man beginnt mit einer Hormontherapie und eventuell sogar einer körperlichen Angleichung.„Ich bin, wer ich schon immer sein sollte!“ Noah hat bereits die Brustentfernung hinter sich: „Es war schon eine kleine Unsicherheit da vor dem Eingriff. Aber ich denke, die muss auch da sein. Jetzt geht es mir viel besser. Ich finde mich mittlerweile ganz cool so, wie ich jetzt bin. Davor habe ich existiert – Jetzt lebe ich!“ Und auch Elli, die alle entsprechenden OPs bereits hinter sich hat, ist sich sicher: „Es war der einzige Weg für mich. Ohne den Alltagstest würde ich nicht mehr leben. Mein Weg hat mich stärker gemacht. Jetzt bin ich ich selbst. Ich bin die, die ich schon immer hätte sein sollen.“

Trans*
Oberbegriff für Transsexualität, Transgender, nonbinary, genderqueer
und genderfluid. Das * steht dabei für die Vielzahl von Geschlechtsidentitäten.
Ein umfangreiches Glossar zu allen Begrifflichkeiten zum Thema auf:
www.queerbeet-augsburg.de/trans-gruppe/nützliches/glossar/