„Lass das!“, ruft Vera ihrem vierjährigen Sohn Enno zu, ohne die Augen vom Schreibtisch abzuwenden. Er wirft mal hier etwas um, teilt mal dort einen gelangweilten Fußtritt aus. Ununterbrochen, so scheint es Vera, muss sie verbieten, zurechtweisen. Doch darin soll nicht der ganze Kontakt zum Kind bestehen: Sie versucht nun, mit ihrem zerstörungswütigen Sorgenkind einmal gezielt Zeit zu verbringen.
„Jeder Mensch sucht und braucht zwischenmenschliche Nähe und Zuwendung. Nähe schafft Geborgenheit, Sicherheit und Orientierung“, sagt Susanne Beck, Therapeutin für Emotionelle Erste Hilfe – neben Nahrung, Wasser, Luft und Wärme eines der Grundbedürfnisse des Menschen. Fehlt sie, können Entwicklungsstörungen die Folge sein; man denke an das prominente Beispiel Kaspar Hausers. Evolutionsbiologisch gesehen ist Nähe sogar wichtiger als alle anderen Bedürfnisse, denn aus Kindessicht ist auch die Versorgung mit Nahrung und Kleidung existenziell von Bezugspersonen abhängig. Diese Zusammenhänge sind wissenschaftlich bestätigt: Eine Studie konnte 2016 zeigen, dass der Bereich des Gehirns, der für Erinnerung, Stressbewältigung und fürs Lernen verantwortlich zeichnet, bei Schulkindern mit unterstützenden, stark zugewandten Bezugspersonen um 9,2 Prozent größer entwickelt ist als bei Gleichaltrigen, die in defizitären Bindungen aufgewachsen sind. „Es gibt diesen schönen Spruch: Bindung vor Bildung“, sagt Susanne Beck. Nähe schenkt das Rüstzeug fürs ganze Leben.
Nähe ist Körperkontakt …
Während für ein Neugeborenes Nähe körperlich erlebbar wird, verschiebt sich dieses Erleben mit dem Heranwachsen zugunsten emotionaler Nähe. Körperliche Zuwendung wird zwar weniger, bleibt aber immer gleich wichtig. Für Babys ist bedürfnisorientierter Körperkontakt und das Getragenwerden beinahe überlebenswichtig, gerade auch für sogenannte Schreikinder, die sich durch scheinbar nichts beruhigen lassen: „Lass mich nicht allein!“ ist oberste Devise. Eltern dürfen den Bedürfnissen des Kindes vertrauen, denn auch wenn das Färbern, eine Technik des „kontrollierten Schreienlassens“ immer noch durch Elternforen geistert, ist inzwischen bekannt, dass das Stresshormon Cortison, das bei allein gelassenen Neugeborenen während längerer Schreiphasen ausgeschüttet wird, lebenslange Schäden anrichten kann, häufig spätere Depressionen oder Angststörungen nach sich zieht und das Immunsystem schwächt. Stillen oder Füttern nach Bedarf, häufiges Tragen und das Familienbett zählen zu den immer beliebteren Möglichkeiten, Kinder in ihren ersten Jahren mit Nähe und Sicherheit zu versorgen.
… und Gesehenwerden
Älteren Kindern tut emotionale Präsenz gut. Das gemeinsame Erledigen von Arbeiten wie das abendliche Zimmeraufräumen schafft Nähe und beschleunigt den Lernprozess und die Fähigkeit, Dinge später alleine tun zu können. Sich Räume für intensive Begegnung aktiv zu schaffen, hilft also nicht nur dem Kind, sondern macht das ganze Familienleben leichter.
Bisher spielt Enno nicht gerne, lieber mag er „echte Arbeit“. Deshalb nimmt Vera sich die Zeit und integriert ihn in eine Hausarbeit. Tatsächlich holt Enno mit Begeisterung einzelne Geschirrteile aus der Spülmaschine, auch wenn Vera bei manchem Scheppern die Zähne zusammenbeißt. Danach darf er beim Gemüseschneiden helfen, und auch, wenn manches Stück noch einmal nachgeschnitten werden muss, fällt Vera auf, dass sie nun schon eine ganze Weile kein „NEIN“ mehr geschmettert hat. Schließlich geschieht das, was sich für Vera anfühlt wie ein Wunder: Enno verliert das Interesse an den Geschehnissen auf der Herdplatte, wandert zufrieden ins Wohnzimmer hinüber und baut für eine geschlagene Dreiviertelstunde Klötzetürme, bevor er wieder zu Vera zurückkehrt. Mit „Schau mal Mama!“ holt er sie nur kurz für ihren Blick auf seine Werke. Auch das, dieses erste „Sieh mich an!“ und der Wunsch des Kindes, seine Gefühle zu spiegeln, sollten wir ernst nehmen, bevor es auf anderen Wegen um Aufmerksamkeit ruft, so wie Enno, dessen einziger Kontakt zu seiner Mutter tagsüber oft darin bestand, zurechtgewiesen zu werden.
Beide Seiten profitieren
Zu emotionaler Nähe gehört, sich verstanden und gesehen zu fühlen. Was im Grunde für alle unsere sozialen Beziehungen gilt, ist für unsere heranwachsenden Kinder umso wichtiger: dass wir beim Sprechen Augenhöhe und -kontakt herstellen und uns ganz unserem Gegenüber zuwenden. Dass wir – ungeachtet unserer Meinungen und Entscheidungen als Eltern – Verständnis für das Erleben des Kindes auf- und zum Ausdruck bringen. Denn Zugewandtheit und Verständnis vermitteln auf emotionaler Ebene dieselbe Botschaft wie körperliche Zuwendung: „Du bist nicht allein.“
Hier entsteht ein Vertrauensverhältnis auf beiden Seiten, denn einem Kind, dem wir nahe sind, können wir auch vertrauen. Während das Kind sich bei uns sicher fühlen darf, leben wir in dem Wissen, was wir ihm zutrauen können oder lieber nicht – eine gute Basis für die turbulenten Teenagerjahre und alles, was danach kommt.
Unterstützung tut gut
Wenn wir als Bezugspersonen spüren, dass wir Probleme haben, Nähe zu schenken, sollten wir uns Hilfe suchen. Vielleicht fällt uns Körperkontakt schwer oder wir entdecken, dass wir aus eigener Kraft nicht aus einem destruktiven Verhaltensmuster herauskommen. Hier ist es von unschätzbarem Wert, mit der Unterstützung anderer an uns zu arbeiten, um unseren Kindern einen guten Start ins Leben zu ermöglichen. Fest steht: Ein Zuviel an Nähe gibt es nicht. Anders als es unsere preußischen Erziehungstraditionen Generationen von Eltern eingebläut haben, produziert zu viel Nähe keine verweichlichten Kinder. Im Gegenteil: Bindung und Nähe sind die Grundlage für starke, selbstständige Heranwachsende, die auf sicheren Beinen den Weg ins eigene Leben beschreiten und später selbst zu echter Nähe und Empathie in der Lage sind. Nähe ist auch kein Privileg von Mutter oder Vater; sie ist wertvoll in jeder Beziehung, zu jeder Bindungsperson. Entscheidend ist vor allem das Vorhandensein von Bindung und Nähe selbst. (jb)
Info: Attachment Parenting
Viel Nähe stärkt die Bindung zwischen Kindern und ihren Eltern und wirkt sich sogar nachweislich positiv auf die Leistungsfähigkeit des Gehirns aus. „Attachment Parenting“ (AP) heißt der Erziehungsstil, bei dem Nähe erste Priorität hat. Herbert Renz-Polster, Kinderarzt und Autor, nennt diese bindungsorientierte Elternschaft in seinem Blog „Normal Parenting“. Er bezeichnet sie als „die normale Art, wie man mit Kindern lebt.“ Der AP-Begriff geht auf den amerikanischen Kinderarzt William Sears zurück. Grundlegend für eine starke Eltern-Kind-Bindung sind laut William Sears sieben Methoden, die auf Nähe und den biologischen Bedürfnissen des Kindes basieren – die „7 Baby-Bs“:
oo Birth Bonding – Damit ist die unmittelbare, körperliche Nähe zwischen Eltern und Baby gleich nach der Geburt gemeint, denn Kuscheln hilft von Anfang an dabei, eine Eltern-Kind-Bindung aufzubauen und sie zu stärken.
oo Breastfeeding – Beim bedürfnisorientierten Stillen sind sich Mutter und Kind sehr nahe und das fördert die Bindung.
oo Babywearing – Körperliche Nähe ist besonders alltagstauglich, wenn Eltern und Bezugspersonen Babys beispielsweise in einem Tragetuch am Körper tragen. Denn dann haben sie beide Hände frei.
oo Bedsharing – Ein Familienbett schafft Nähe und Geborgenheit und ermöglicht es Eltern außerdem, gezielt auf die Bedürfnisse ihres Kindes einzugehen.
oo Belief in Baby’s Cries – Dazu gehört, diese Bedürfnisse und das Schreien des Babys immer ernstzunehmen und darauf einzugehen.
oo Beware of Baby Trainers – Unbedingt auf „Schlaftraining“ oder Erziehungsmethoden wie „Färbern“ verzichten!
oo Balance and Boundaries – Es ist wichtig, dass ein Gleichgewicht zwischen den Bedürfnissen von Kindern und Eltern herrscht. So viel Nähe und die von Geburt an? Läuft man da nicht Gefahr, seine Kinder an sich zu „kleben“? Herbert Renz-Polster argumentiert entschieden dagegen und warnt davor, diese Bindung zwischen Kind und Eltern, als Einschränkung zu betrachten: „Wer sich geborgen fühlt, will die Welt erfahren. Da ist immer beides: Wurzeln und Flügel, Bindung und Freiheit.“
WEITERLESEN AUF
www.geborgen-wachsen.de
Onlinemagazin für Eltern mit Pädagogik; Beziehung, nachhaltiges Leben und
bindungsorientierte Elternschaft als Themenschwerpunkte.
www.kinder-verstehen.de
Kinderarzt, Autor und vierfacher Vater Herbert Renz-Polster bloggt über Themen
rund um Entwicklung, Kindheit und Erziehung.
www.rabeneltern.org
Ein Blog darüber, wie Eltern ganz ohne Angst vor dem berüchtigten„Verwöhnen“
gewaltfrei, fürsorglich und mit Respekt erziehen können.
www.derkompass.org
Dreifache Mama Ruth Groß schreibt über Erfahrungen und gibt Alltagstipps
für ein gewaltfreies Miteinander und die Balance zwischen Vertrauen und Verantwortung.