Einfach mal Stille…

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HINWEIS: Dieser Artikel ist älter als ein Jahr (Erscheinungsdatum: 23. Dezember 2019). Es kann sein, dass Inhalte dieses Artikels sich geändert haben. Hier geht es zu unseren aktuellen Meldungen.

Da kommt sie wieder, die „stade Zeit“. Doch – Hand aufs Herz – bei wem ist die Vorweihnachtszeit oder irgendeine andere Zeit eine stille, ruhige  Zeit? Lärm und ständige Geschäftigkeit umgeben uns den gesamten Tag und leider oft genug auch in der Nacht. Es ist eine hektische und auch laute Welt, in der Kinder heute aufwachsen. Gerade deshalb ist Stilleetwas Wertvolles. Sie ist ungewöhnlich und ungewohnt, für manche fast schon beängstigend. Aber erst in der Stille kann der Mensch fruchtbare und schöpferische Wirkung entfalten. Gönnen wir unseren Kindern und uns selbst doch einfach wieder mehr Stille im Alltag!

Wenn etwas lautlos ist, kein Geräusch zu hören ist, dann spricht man im Allgemeinen von Stille. Aber sie umfasst in unserem Sprachgebrauch auch das „Still-Sitzen“ im Sinne von „ich bewege mich nicht“ oder das „Still-Sein“ als „ich spreche nicht“. Für viele Kinder ist beides unangenehm, vor allem, wenn es ihnen von außen aufgezwungen wird. Manchmal wird das Stillsein sogar bewusst als Strafe eingesetzt, wenn Kindern eine schweigende Auszeit, am besten bewegungslos
sitzend, aufgebürdet wird. „Das ist kontraproduktiv zu dem, was den Wert der Stille ausmacht“, sagt Eva-Maria Lettenmeier, Lehrerin an der Franz-von-Assisi-Schule in Augsburg, wo Stille ein zentrales Element ist. Und auch Heilpraktikerin Katrin Sturm, die mit Kindern beim Yoga in die Stille geht, spricht von Stille als „wertvolle Zeit“.

„Kinder sind innerlich total unruhig  durch den Druck von außen. Sie
haben verlernt oder nie gelernt, einfach mal nichts zu machen, sich
mit sich selbst zu befassen. Früher sagte man dazu Müßiggang – ein
schönes Wort finde ich.“

Das Hören nach innen lenken
Was ist es also, das den Wert der Stille ausmacht? Für Eva-Maria Lettenmeier sind es vor allem zwei Dinge: Fokussierung und Konzentration. Beide sind gerade für SchülerInnen in ihrem  herausfordernden, aufs Lernen ausgelegten Alltag wichtig, mit zunehmendem Lärm um sie herum jedoch schwieriger. Dabei sieht die Lehrerin Stille weder als Untätigkeit noch als   kommunikationsfreien Raum: „Stille ist eine Möglichkeit, sich ganztätig auf bestimmte  Problematiken zu fokussieren.“ Für sie ist es eine Vorstufe zu Meditation und i nerer Einkehr. „In der äußeren Stille kann man das Hören nach innen lenken“, ist sie überzeugt. Im christlichen Sinne bietet Stille, wie sie früher in Klöstern in der Kontemplation, der stillen Betrachtung, geübt wurde, eine Grundlage für Gotteserfahrung. Im Kleinen kann das jeder Einzelne für sich selbst tun, als „intimste Gotteserfahrung“ wie es Eva-Maria Lettenmeier ausdrückt und damit meint, was auch  Katrin Sturm in der Stille sieht: „In der Stille tritt man in Kontakt mit sich selbst.“ Kontrapunkt zum Einstürmen der Außenwelt Nur wer in Kontakt mit sich selbst ist, sich selbst sieht und wahrnimmt, kann ein Selbstund Selbstwertgefühl entwickeln. „Kinder sind innerlich total unruhig durch den  Druck von außen.“ Katrin Sturm sieht dies vermehrt in ihren Yogastunden: „Sie haben verlernt
oder nie gelernt, einfach mal nichts zu machen, sich mit sich selbst zu befassen. Früher sagte man dazu Müßiggang – ein schönes Wort finde ich.“ Dies äußert sich ihrer Meinung nach zunächst in äußerer Unruhe, ist aber eigentlich ein Ruf nach innerlicher Ruhe. So bringt bei sehr aktiven Kindern selbst viel Bewegung oft keine Besserung. Vielmehr leben diese Kinder in einer ständigen Anspannung. „Die Kinder müssen den Unterschied zwischen An- und Entspannung am eigenen Körper erfahren und die Entspannung auch willentlich herbeiführen können.“ Dies ist es, was sie in ihren Yogastunden für Kinder und Jugendliche forciert: bewusste Entspannung. So beginnt ihre Stunde mit stillen Momenten wie dem Anschlagen der Klangschale oder dem Singen eines Mantras. Es folgen Bewegungsübungen und am Ende mindestens 15 Minuten mit leiser Musik, dem Betrachten einer Flamme oder von Schwimmkerzen, einer Fanatasiereise, Malen oder progressiver Muskelentspannung. Es handelt sich also nicht um absolute Stille, Katrin Sturm spricht in dieser Zeit auch mit den Kindern, wenn der Bedarf da ist. „Vielmehr ist es eine Zeit für sie, um einfach in sich drin zu sein, Zeit mit sich selbst zu verbringen.“ Und die Kinder genießen es, stellen fest, wie gut es ihnen tut.

Einfach mal nichts tun
Beobachtet man Kleinkinder, kann man erkennen, wie sie in ihrem Spiel oder auch beim Malen ganz darin versinken, „in konzentriertem Frieden mit sich selbst sind“, wie Eva-Maria Lettenmeier das bezeichnet. Auch das ist eine und zwar wichtige Form von Stille, in der die Kinder, nicht vom Hintergrundgedudel eines Hörspiels oder den ewigen Vorschlägen der Eltern unterbrochen, lernen, sich auf eine Sache ganz und gar zu fokussieren und zu konzentrieren. „Der Alltag erwartet jedoch zu oft, die Kinder aus ihrer Stille zu reißen.“Eva-Maria Lettenmeier rät Eltern, dann einen sensiblen Übergang in den Alltag zu finden, das Kind zu begleiten und mitzunehmen. Das heißt, frühzeitig
vorwarnen und dann Zeit lassen, um vielleicht auch gemeinsam Autos einzuparken oder Puppen schlafen zu legen und damit das intensive Spiel zu beenden. „Man sollte die Kinder nicht überfrachten zum Beispiel mit täglichen Nachmittagsterminen“, fordert auch Katrin Sturm. „Man kannsich zumindest am Wochenende vielleicht Zeit nehmen, um sich einfach nur hinzusetzen, zu sein. Bei einem Ausflug in den Park oder Wald könnte man hören und lauschen – anstatt das Kind auf dem Spielplatz zum Schaukeln, Rutschen, Machen zu animieren. Oder auch eine stille Minute am Tag einführen – früher war das zum Beispiel das Tischgebet.“

„Stille ist wertvolle Zeit, nicht nur bei den Kindern, auch bei sich selbst. Gehen wir Erwachsene mit
gutem Beispiel voran: Gönnen wir uns am besten gemeinsam mit unseren Kindern stille Momente im Alltag. Denn: Stille will geübt sein!“

Herausforderung für die Erziehung

Lärm führt zu Reizüberflutung und damit Unruhe. „Stille als Kontrapunkt sollte einen Platz in der  Erziehung haben“, ist sich Eva-Maria Lettenmeier sicher. Für sie ist dies gar eine der größten  Herausforderungen in der Erziehung. Die Franz-von-Assisi-Schule, an der sie unterrichtet, arbeitet nach dem Konzept des Marchtaler Plans, wo freie Still-Arbeit ein tägliches Element im Schulalltag darstellt. Es ist faszinierend zu sehen, wie konzentriert die SchülerInnen in dieser Zeit arbeiten. Sie arbeiten alleine, suchen auch gemeinsam flüsternd nach Lösungen oder erhalten von der Lehrkraft Hilfe. „Für manche SchülerInnen stellt dies eine Art Schutzraum dar, eine Zusicherung, dass sie in Stille oder anders gesagt in Frieden arbeiten dürfen.“ Darüber hinaus gibt es Stilleübungn im wöchentlich stattfindenden Morgenkreis mit Platz für besondere Erfahrungen: für sensorische Erfahrungen, die man nicht mit Worten ausdrücken muss, für eine Auszeit, um Gedanken
einzufangen und zu bündeln, und für ein konzentriertes Miteinanderumgehen, auch ohne Worte. Da wird einmal ein besonders zerbrechlicher, schöner Gegenstand betrachtet und weitergegeben, ein anderes Mal eine Geschichte erzählt. Und es gibt ein „Haus der Stille“, ein puristischer Raum,
der ausschließlich für stille Momente im Schulalltag genutzt wird, wie zum Beispiel Meditationen, Vorlesen oder Schulgottesdienste. Der Stille Raum geben Um dem zu viel an Muss, das teils in Kindergarten oder Grundschule stattfindet, entgegenzuwirken, empfiehlt Katrin Sturm, dass sich Eltern in den Einrichtungen dafür einsetzen, mehr Entspannungszeiten und -räume für die
Kinder zu etablieren. Jedoch, und darin sind sich Katrin Sturm und Eva-Maria Lettenmeier einig, liegt es an den Eltern, zunächst selbst zu sehen und es selbst wieder zu lernen, dass Stille etwas Schönes ist. Dass es wertvolle Zeitist und dass daraus etwas Kreatives entstehen kann. Nicht nur bei den Kindern, auch bei sich selbst. Gehen wir Erwachsene mit gutem Beispiel voran: Gönnen wir uns am besten gemeinsam mit unseren Kindern stille Momente im Alltag. Denn: Stille will geübt sein! (ab)